Die Globetrottels

Unterwegs im Magicbus

Von Profis beraten

Um Punkt sieben werden wir zum Frühstück erwartet. So läuft der Hase in der Pilgermassenhaltung: wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Die Ultreia-singende Truppe von gestern sitzt schon lustig schnatternd am Tisch, wir werden freudig und lautstark begrüßt. Vor dem ersten Kaffee.
Nur unsere Zimmernachbarin sieht etwas fertig aus. Weil ich heute Nacht geschnarcht habe — meint Chouchou. Da hätte auch jegliches rütteln am Stockbett nix gemacht….
Vor lauter Scham traue ich mich nicht dreimal nach der Kaffeekanne zu fragen. Unzureichende Betankung. Das sollen wir im Laufe des Tages noch merken.

Punkt 8:00 Uhr: Check out.
Unsere Spende fürs Frühstück landet im Körbchen, wir kriechen erstmal zum Bäcker: Kaffee holen.
Jim und Chang sind Lustigerweise auch schon da. Und die wackeren, campierenden Jungs, die vom Herbergsvater weggeschickt wurden. Sie mussten ihr Zelt hinterm Fussballplatz aufschlagen, nachdem die Sonne unterging.
Alle Pilger sind gleich, aber manche sind halt gleicher als andere.

Am kältesten Tag des gesamten Pilgerwegs geht’s heute für uns weiter durch grüne Tunnel, vorbei an Kühen, die genauso müde sind wie wir, bis zur ersten Kapelle. Ein kalter Pyrenäenwind fegt bereits ab acht: Handschuhe tragen. Auch das erste Mal auf dem Weg.

Wunderschöne, schlichte Kapelle im Nirgendwo. Heißt: St Jacques. Wie sonst!?
Klaus Jakobsjunge war natürlich auch schon hier. Mittlerweile hat er vier Wochen Vorsprung. Wir werden ihn nicht mehr einholen.
Im Hinterzimmer könnte man nachts —als verlorene Pilgerseele— unterkommen, wenn man keine Angst vor Geistern hat. Ein alter Schrank rechts, dessen Türen knirschen, ein spinnwebenumarmter Tisch in der Mitte. Links gab es vor hundert Jahren mal einen Kamin, der frisch angekokelt ist. Ein Findiger, der einen Zettel hinterließ:
„An alle Idioten: Bitte kein Feuer machen!“

Erster Stop nach 10 km in einem Örtchen mit dem lustigen Namen Pimbo. Mittendrin — in einer alten Scheune, vollkommen unerwartet — ein Feelgoodcafe, wie man es auch in Prenzelberg finden könnte.
Die Ultreia-singende Truppe ist auch schon da und umfängt uns freundlich winkend und schnatternd. Ach, Du Zauber des Anfangs…

Wir bestellen herrliche Waffeln und den besten Kaffee seit langem. Zu kaufen gibt es außerdem alle lokalen Produkte, die im Umkreis von 15 Kilometern hergestellt werden: Rilette, diverse Weine, artisanale Biere, CBD-versetzte Tees, handgerührtes Shampoo. Einzig nicht einheimisches Produkt: Nag Champa Räucherstäbchen.

Nur mühsam raffen wir uns nach zwei Kaffee und einer Stunde wieder auf. Zwischen eiskalten Wind fällt mittlerweile Nieselregen. Nicht die beste Werbung zum Weitergehen.
Trotzdem soll’s jedem mal empfohlen werden: in Eiswind und Nieselregen weitere 9 Kilometer mit Gepäck meist bergan zu laufen, setzt ungeahnte Emotionen frei! Nicht immer nur die schönsten.

Etappenziel ist heute Arzacq-Arraziguet — ein Ortsname, den sich nicht mal die Einheimischen merken können. Den Rest muss man sich auch nicht merken.
Die kommunale Herberge sieht aus wie ein Zentrum für Abschiebehaft, meint Chouchou. Immerhin hat’s dort heute —Gott sei dank— ein Zweibettzimmer für uns.

Ob wir abends um „Punkt sieben“ mit Abendessen wollen, fragt die städtische Mitarbeiterin. „Nein, danke,“ sagen wir. Denn nebenan hat es eine Pizzeria.
Eigentlich hatten wir für morgen Frühstück mitgebucht, ab wann es das denn gäbe, fragen wir.
Ab wann? Das gibt es hier nicht. Kein „von bis“, sondern nur ein „pünktlich um sieben!“ sagt die städtische Mitarbeiterin:
Ob das „d’accord“ für uns sei?
Äh. Ob wir auch um viertel nach kommen könnten?
„Non!“
„Non?“
„Non!“
Ehrlich gesagt ist das nicht so komfortable für uns. Also: Non. Aber herzlichen Dank fürs Angebot.

Ein deutscher Pilger hinter uns schüttelt verständnislos den Kopf.
Was wir denn bitte hätten? Frühstück gibt es überall in Frankreich um sieben.
Er weiß ganz genau Bescheid, er ist nämlich schon durchs gesamte Land gepilgert. Mit sechs Jakobswegaufnähern auf der Jacke und seiner fußkranken Frau, die er heute mit dem Bus weggeschickt hat. Selbst schuld, wenn die Alte mit Fersensporn nicht mehr laufen kann. Im Notfall muss sie zurück nach Witten, wenn’s nicht besser wird, dann läuft er halt alleine weiter.

Hinter ihm steht der nächste Profi: ein Nordlicht mit Ziehwagen. Der hat genauso viel Ahnung, wie sein Kompagnon mit Aufnäher. Neben Frühstück im sieben ist ein Ziehwagen viel besser als ein Rucksack. Weiß er, weil er nämlich ein echter Pilger ist und nicht nur ein „zwei Wochen Wanderer“. Da braucht es halt etwas mehr als nur im Urlaub.
Aber wem erzählt er das?
Blutigen Anfängern, die um acht frühstücken möchten und noch lange nicht verstanden haben, dass „Pilgern nicht immer eine Freude bedeutet. Aber das versteht ihr vielleicht ja auch später mal.“

Ja, vielleicht. Bis dahin wird bei den Globetrottels halt nicht um sieben gefrühstückt, eher getragen als gezogen. Ohne Aufnäher auf der Jacke.
Es ist aber mal gut, kostenlos von Profis beraten zu werden…


Und Gott sprach: es gibt Omlett!

So langsam haben wir den Groove raus.
Den Tag in Aire sur l‘Adour genutzt, um die Logistik der nächsten drei Tage in die Hand zu nehmen. Somit lässt es sich heute entspannter los marschieren: wohlwissend, dass wir uns nun drei Tage nicht mehr um die Übernachtungen kümmern müssen. Das —wirklich— macht den Tag um so vieles einfacher.

Neunzigerjahre Groove zum Frühstück wegen Pampelmuse. Und das große Wundern, dass tatsächlich in einigen Dörfern Südfrankreichs noch Ausnahmegenehmigungen für blutigen Stierkampf existieren. An einigen der Todgeweihten marschieren wir vorbei. Aus der Stadt heraus.

Hinterm Ortsschild liegt das Kloster Sainte-Quiterie. Quiterie: eine Märtyrerin des frühen Mittelalters, die sich einem gotischen Prinzen verweigerte, der nicht an die Dreifaltigkeit glaubte. Konsequenz: Kopf ab.
Ihr Sarkophag liegt hier in der Kirche.
Noch heute wird die heilige Quitteria verehrt und von den Gläubigen regelmäßig angerufen: ironischerweise vor allem bei Geisteskrankheiten und Kopfschmerzen. Guillotinenhumor nennt man das dann wohl.

Über den Nelson Mandela Weg runter zum See. Dort treffen wir zwei Hippie Frauen und einen Schweden. Erstere sieben mal den Tag über, letzteren ein einziges Mal.
Autobahnunterführung. Darunter: die größte Schlange der südfranzösischen Lebenswelt. Gott sei dank tot.
Danach vorbei an den Toros. Gott sei dank lebendig.

Bis Miramont sind es irgendetwas zwischen 18 und 20 Kilometer. Kapelle auf Hügel unter Wasserturm: die Hippies sind schon barfuß da, Pyrenäenausblick und Stoppschild im Grünen. Im Ort: zwei private Herbergen und eine kommunale. In die ziehen wir ein.

Zwei herzige Herren begrüßen uns. Wir sind heute die ersten, wir können uns unsere Betten im Sechsbettzimmer also noch aussuchen.
Ob wir abends mit essen wollen? Dreimal versuchen wir auf den Pizzabäcker des Orts zu verweisen, dreimal wird das freundlich überhört. Irgendwann sagen einfach: ok, ja. Wenn’s vegetarisch geht!? Natürlich geht das. Es wird heute Abend mal wieder Omelette geben.

Dieser Pilgerweg wartet mit so vielen kleinen Abenteuern auf. Nur eines davon: vegetarisch essen im hyperländischen Süden Frankreichs.
Sollte sich auf diesen Weg irgendwann mal der Himmel auftun und Gott zu uns sprechen wollen, wird es bestimmt dieser eine Satz sein: „Vegetarisch? Kein Problem. Ich kann euch gern ein Omelett machen…“


Aire sur l‘Adour

Liebes Tagesbuch!

Heute gibt es keinen Text, sondern nur ein paar Bilder eines entspannten Sonnenmontags in Aire sur l‘Adour.
Ab morgen geht’s wieder weiter, weniger wortkarg,

Deine Globetrottels


Immer wieder für die Erleuchtung

Morgens von den Putzdamen aus der Herberge gefegt, warten heute 28 Kilometer auf uns.
Durch Sonne und mit Pyrenäenblick. Immer am Wein entlang.

Heute laufen Kim und Chang, die beiden Koreaner, parallel zu uns. Die beiden, vor denen ich den allergrößten Respekt habe.
Für uns ist jeder Tag auf diesem Weg eine endlose Herausforderung.
Wie bloß geht das mit einem lahmen Bein? Es scheint mir fast unmöglich.
Und Kim lächelt und läuft weiter. Zum zigsten Mal bereits. Wahnsinn.

„Ich liebe dich, mutiges Leben“ steht irgendwann am Wegesrand.
An einer Kirche im Nirgendwo portraitiert ein Fotograf die vorbei kommenden Pilger: uns.
Und Chouchou knipst ihn.
Wir knacken die 500 Kilometermarke irgendwo hinterm vorletzten Acker.

Bei Ankunft in Aire sur l‘Adour zeigt mein Schrittzähler 30 Kilometer, die letzten Kilometer des Tages mal wieder pures Durchhalten. Immer und immer wieder.

Wie gut, dass am Ende irgendwann die Erleuchtung steht. Sonst käme man womöglich irgendwann auf die Idee sich zu fragen, was das alles eigentlich soll. So weiß man es wenigstens.
Für die Erleuchtung.
Immer und immer wieder.


Gut drauf aufpassen: auf alles wichtige.

Auf Plastik schläft es sich nicht allzu mega, aber wir sind am Morgen happy: erwachen im eigenen Stadthaus in Eauze, der Kaffee ist selbst gebrüht. Es gibt auf diesem Weg wenig kostbareres als das: Selbstbestimmtheit. Außer vielleicht Mandelcroissant zum Frühstück.

Nächster Tag des „Camino buenos“: Sonne mal wieder, die schneebedeckten Gipfel der Pyrenäen winken verheißend am Horizont. Wir hören den Lockruf und reden am Abend darüber. Möglicherweise gilt es irgendwann die Route anzupassen?!
Weinreben für Weinbrand „knack knack Armagnac“ an unserer Seite, nüchtern. Butterblumen, die von Frühling erzählen und erste Zikaden vom Sommer. Wir wandeln durch einen grünen Tunnel. Fischteiche, in denen welche Schuppentierchen auch immer gezüchtet werden.

Der erste Ort auf der Strecke heißt Manclet. Die Stierkampfarena hat schon lange dicht. Genauso wie alle Kaffeealternativen, die wir dringend geplant hatten. Lerne: Never trust an old Reiseführer. Am zentralen Ort werden Kulturevents von 2019 beworben und auch die Kirche hat zu. Immerhin gehts über eine froschgrüngeile Brücke weiter. Irgendwo hinter Kilometer 11.

Perfekte Wolken, die wie Wattebäusche an den Himmel geworfen wirken. Wir kürzen über eine unbefahrene Straße ab. Die hellgrünen Weinreben in Reihe sehen aus wie pubertäres Gestrüpp, das gezähmt werden soll. Die pflanzlichen Irokesenschnitte gefallen mir deutlich besser als jedes gestutzte Gewächs. Aber was soll´s: ich bin nicht die Winzerin.
Ein Baum mit Dreadlocks im Nirgendwo. Möglicherweise Anbetungsplatz der Pastafari? Anderes Heiliges sehnen wir heute nicht. Außer vielleicht: Happy Birthday, Nutella.

Kurz vor Nogaro sind die Vögelchen außer Rand und Band, der Wegesrand voll mit Saubohnen.
Dies fühlt sich schon lange nicht mehr nach Südfrankreich an, sondern wie ein ganz eigene Welt. Die Via Podiensis. Wo die Menschen nur aus purem Zufall französisch sprechen. Wo eine ganz andere Weltzeit gilt. Jenseits von allem anderen. Auf einem anderen Stern.

Nach 19km sind die Fersenschmerzen unverändert wieder da.
Wir sitzen auf dem Boden im Schatten, fersenleckend, als Lotto King Karl vorbei kommt.
Und: was macht die Lotterie von gestern? Nichts gewonnen, sagt er. Aber er kann schmerzverzerrt bestätigen, dass es diesmal auch bei ihm die Fersen sind, die schwächeln. „Jedes Jahr was Neues.“ Wem sagt Du das, Karl!? Beruhigend allerdings ist: Schmerzen hat anscheinend wirklich jeder auf diesem Camino.

Bis zum Zentrum Nogaro sind es insgesamt 24 Kilometer für uns.
Wir checken in der Gite d´ etape communale ein. Mit zwei Tüten voller „Carrefour Hypermarché Food“. Super, vegetarisches Essen kochen: selbstbestimmt. Besser geht nicht. Außer vielleicht noch Zweibettzimmer.

Was ist eigentlich das Schöne an diesem Weg? Wenn allen alles immer mehr wehtut? Wenn jeder Tag ein Aufrappeln und schleppen ist? Bis zum Ausatmen des endlich wieder Ankommens am Abend.
Vielleicht sind es all diese kleinen Dinge, die uns weiter machen lassen. Das stille Gehen und nachdenken. Das reden darüber. Die Freude an weitem Himmel und Sonnenschein und einem leichten Windhauch bei Hitze. Die Dankbarkeit des kurzen Ankommens am Abend, das morgens wieder weiter ziehen dürfen. Und immer da sein.
Weiches Bett, warme Dusche, nahrhaftes Essen — wenn’s mal da ist.
Das zart sein mit und aufpassen auf die Dinge, die man bei sich trägt. Die Kostbarkeit jedes einzelnen Teilchens, das gepflegt werden will. Warmes Überziehjäckchen am Abend, gute Socken in wackeren Schuhen, die Liebe zueinander. Alles unfassbar wertvoll. Wie oft wir das doch vergessen.

Apropos wichtige Dinge, die man bei sich trägt:
Nach nur einem Tag habe ich vor ein paar Tagen meine „Jesus loves you“-Käppi verloren. Nicht gut aufgepasst, nun fehlt es mir sehr. Emotional und vor allem in der Mittagssonne, die zunehmend auf südfranzösisch brennt.
Heute gab es im Carrefour ein neues Mützchen. Es stecht nicht „Jesus loves you“ drauf, stattdessen: „catch the waves“.
Möglicherweise ist dies so viel passender. Und meine Freude grenzenlos.
Auch das ist ein Punkt, den ich mir dringend merken müsste.

Ab jetzt: gut drauf aufpassen. Auf alles. Alles Wichtige.


Pilgerglück, da bist du wieder.

Ich kann kaum glauben, wie ruhig ein belebtes Örtchen in der Nacht werden kann. Auch in der letzten Nacht war es so still wie in einem Grab. Montreal-en-Gers: das stillste Dorf Südfrankreichs.

Beim Frühstück sitzt eine kanadische Fee. Sie scheint in die Küche geschwebt zu sein: auch sie haben wir nicht gehört. Dass die Kanadiern im Laufe des Tages ihre Nationalität einfach wechselt — je nachdem mit wem sie spricht, wissen wir beim ersten Kaffee noch nicht. Für uns bleibt sie „die kanadische Fee“, für andere wird sie auf dem Camino Schweizerin sein. Zumindest hören wir am Mittag, dass sie sich so bei anderen vorstellt.

Nach der Pilgerkrise der letzten Tag ist der heutige Freitag fast lächerlich perfekt.
Nach einem feinen Frühstück gehts in strahlendem Sonnenschein los. In Montreal ist heute Markt, das gesamte Dorf scheint auf den Beinen. Nur unser 80-jähriger Filmmacherfreund von gestern taucht leider nicht auf. Wir hätten so gerne „adieu“ gesagt.

Der Weg ist den gesamten Tag freundlich zu uns. Nur ein einzige Mal versinken wir heute bis zu den Knöcheln im Matsch, der Rest ist trockenes Gras oder Wirtschaftsweg an Wein vorbei (für den schuheausziehenden Armagnac — lokaler Brandwein mit 40% Wumps) oder Fahrradweg im Schatten. Und den gesamten Tag keine einzige Wolke.

Mittagspäuschen ist in Lamotte. Angeblich gibt es hier eine Kirche und die einzige Picknickbank der gesamten, heutigen Etappe. Sagt der Pilgerführer. Die Realität aber hält eine zauberhafte Überraschung bereit.
Mittlerweile ist Lamotte nicht mehr nur eine einsame Kirche mit schweigendem Friedhof draußen dran, sondern hat sich anscheinend zum Pausenzentrum gemausert für alle, die die Etappe von Montreal nach Eauze pilgern.
Ein augenscheinlich sehr pilgerfreundliches Paar (Bauern oder Friedhofswächter?) hat hier einen Rastplatz improvisiert, mit allen Annehmlichkeiten, die man sich als Pilgerndes an einem sonnigen Freitagmittag wünscht:

Ein schneeweißer Golden Retriever (also eher White Retriever!?) begrüßt die Wanderleut freudig und schnorrt sich —trotz aller Warnungen— natürlich erfolgreich bei uns durch.
Die Pilgermama hat Kuchen und Nüsse und Obst und Sandwichs und Kaffee und kalte Getränke bereit gestellt. Bezahlung auf Vertrauensbasis.
An der Wand hängen abgelatschte Schuhe von ehemaligen Pilgern (teils mit 2500 Kilometern auf den Sohlen) und eine LGTBQ-Flagge.
Kanadische Stühle und Tische vor Aussicht auf ein Weintal. Ein Wasserclosett ohne Spiegel, stattdessen hängt eine Tafel über dem Waschbecken, die in mehreren Sprachen verkündet: Du bist schön. Und alle sind da:
Die Koreaner (sie flott, er Piratenbein), die sogleich mit uns ein Foto machen wollen.
Die kanadische Fee, die sich bei den Koreanern als Schweizerin vorstellt.
Ein neuer Wegbegleiter —graumelierter, biertrinkender Franzose um die 50– der von allen Anwesenden die Glückszahl erfragt, um diese Nummern heute beim Lotto zu tippen. Sollte er gewinnen, wird er mit jedem von uns, den er auf dem Weg wiedertrifft, seinen Gewinn teilen.
Und Claire! Diejenige, mit der wir mittlerweile die längste Zeit auf dem gemeinsamen Weg teilen. Seit mittlerweile 14 Tagen und 180 Kilometern laufen wir mit- und nebeneinander. Teils in der gleichen Herberge, einmal sogar im gleichen Zimmer. Wir haben Claire aus dem Matsch gerettet, sie am Kanal eingeholt — damals als sie mir sagte, dass ich sehr wohl unrecht hätte, wenn ich alle Religionen als einen Brei bezeichnen würde. In Moissac haben wir gemeinsam über ihre zerstörten Schuhe geseufzt (mittlerweile hat sie neue, die sie allerdings im Rucksack trägt. Zu sehr hat sie sich wohl an das Schluppen der mittlerweile ziemlich komplett gelösten Sohle gewöhnt. Und Angst vor Blasen in neuen Schuhen.)
Wir machen das, was wir schon beim vorletzten Treffen fest vereinbart hatten: ein Foto. Schön und wichtig.

Der Nachmittag geht so einfach weiter wie der Morgen. Es ist, als wolle der Weg uns mit allen Kräften zurückgewinnen, so schön präsentiert er sich. Und so viel Freude macht es plötzlich wieder genau hier unterwegs zu sein.

Kilometerweiter, schnurrgerader Radweg bis Eauze. Früher Eisenbahnstrecke, heute Meditationstippelweg im Schatten. Super Pilgerbänke alle zwei Kilometer: Bänke, für die man keinen Zentimeter in die Knie muss. Hier hat jemand mitgedacht: ein wandernder Landschaftsarchitekt sehr wahrscheinlich.
Am Wegesrand wächst wilder Spargel. Wir holen eine ältere Dame ein, die erzählt: den habe ihre Mutter immer gesammelt und teilt freimütig Rezepttipps mit uns. Bis Eauze flücken wir ein Sträußchen fürs Abendessen.

Nach knappen 20 Kilometern sind wir in Eauze.
Bis heute morgen schien es unglaublich unmöglich, irgendeine Unterkunft in Eauze zu finden, die hygienisch UND erschwinglich ist. Wir zogen am Morgen also gänzlich ohne Plan los.
Am Mittag aber meldete sich Arnaud auf unsere Anfrage per mail zurück: in seiner Gite sei heute Nacht noch Platz. Dahin also tippeln wir nach einem Belohnungsankommensbierchen vor der Kirche des Orts.

Um es kurz zu machen: Arnaud gibt uns per Telefon den Code der Haustür durch, er selbst sei heute nicht da. Wir stehen vollkommen alleine in einer verlassenen Herberge — als einzige Gäste heute Nacht. Das ganze Haus gehört uns. Inklusive Küche und Bad und Fußbad (wenn wir wollten). Letzteres aber wollen wir dann lieber doch nicht. 15 Euro pro Person, die vegetarische „DM“ (Demi-Pension = Halbpension) machen wir uns liebend gerne selbst:
Mit wildem Spargel an Cocktailtomaten als Vorspeise, Maccaroni an Tomaten-Parmesan als Hauptgang und Apfelkuchen als Dessert.
Heute kann es nichts schöneres geben, als auf der Via Podiensis unterwegs zu sein.
Happy Pilgern, da sind wir wieder.


Scheise-randonner und vegetarisch essen wie Gott in Frankreich

Geschlafen bei unter 16 Dezibel: wer dann noch wach wird, darf sich sicher sein, eine ruhige Nacht gehabt zu haben.
Hatten wir. Herrlich. Und lebendig wieder erwacht.
Ich versuche mich mit unter 15 Dezibel über knarrende Treppen nach unten an die Kaffeemaschine zu schleichen, um Raymond nicht zu wecken. Der aber sitzt schon munter beim Frühstück.

Statt Baguette mit Konfitüre gibt es heute Morgen für uns Raymonds sehr bewegende Lebensgeschichte zum Petit-dejeuner.
Ein wackerer Mensch, der —nach einem herzlichen Lachen— genauso zu Tränen rührt. Lachyogalehrer aus den Schweizer Alpen und Postbeamter a.D..
Ach wir Menschenseelen. Tragen alle unser Päckchen. Mal leicht, mal schwer — manchmal gemeinsam, manchmal allein.
Ganz sicher macht es es uns allen einfacher, wenn wir unsere Geschichte teilen. Einfach mitteilen. Gemeinsam lachen und weinen — verbindet. Gemeinsam leben — eben.
Ein gutes Learning beim zweiten Kaffee.

Außerdem steht für uns heute allzu nicht viel an. Außer des obligaten „neue Unterkunft für morgen suchen“ und „etwas warmes Vegetarisches auftreiben, das nicht gekocht werden muss“.
Beides dauert zusammen drei Stunden. Natürlich eine Unterkunft für morgen gefunden zu haben.
Sagte ich schon, dass die Logistik beinah so anstrengend ist, wie das laufen?
Meine Fersen sehen das zwar ganz anders, aber mein Kopf hat natürlich rechter. Darauf erstmal Käsekuchen.

Immerhin finden wir für die zweite und dritte Etappe nach Montreal schon jetzt eine Unterkunft. Es war uns so lange zu wider, tatsächlich drei Tage vorauszuplanen, nun aber endlich fruchtet das „eines besseren belehrt zu sein“.

Die nächste Etappe bis nach Eauze aber scheint heikel zu werden.
Entweder antwortet niemand auf unsere Anfrage via Telefon oder Mail oder die Kommentare sind so vernichtend, dass man gar nicht mal fragen mag.
Mein Lieblingskommentar nach „ungesund“, „Wespennest im Zimmer“ und „da muss das Gesundheitsamt rein, um dicht zu machen“ lautet:
„When the owner took of all his clothes in front of us and jumped naked into a discusting little green lake I decided that I’ve had enough.“
Bonjour Via Podiensis.

Den Rest des Tages sitzen wir auf der kleinen Piazza vor dem Supermarkt in der Sonne. Ein koreanisches Paar zieht vorüber: sie flott, er Piratenbein.
Ein einheimischer Filmemacher um die 80 spricht uns an: sei Scheiße hier zu wohnen, sagt er. Genauso Scheiße wie wandern. „Scheise-randonner“, wie recht er doch hat.

Im Supermarkt wählen wir das zweite (und letzte) vegetarische und Mikrowellen-kompatible Essen: Kartoffelgratin aus der Dose. Dazu gibt es Raymonds zurückgelassenen Salat, aus dem wir die arme „Poulet“ rauspulen. „Essen wir Gott in Frankreich“ ist nix für Vegetarier.

Und dann ist unser Pausentag viel zu schnell auch schon wieder um.
Eine Wanne darf es noch geben (lieber Gott, bitte mach, dass das Wasser heute warm wird!) und ein Glas Wein.
Nicht halbvoll, sondern voll bitte.
Habe ich von Anna Rosa gelernt.
Gut, auf die Weisen zu hören:
Glas voll machen bitte und „scheise randonner“.
Wo bitte ist also das nächste Taxi?


Wanderlust lost. Finderlohn geschrieben.

Der erste Gedanke nach Augenaufschlag: Nein, Mann, ich will noch nicht gehen. Und genauso wenig tanzen….

Aber es hilft ja nix. Also Rucksack gepackt und weiter. Selbst die neue Mütze, meine unschlagbare „Jesus loves you -Chaquette“, hat sich vor mangelnder Motivation schon heimlich vom Acker gemacht — wohl das Teil im Leben, das nach Erwerb als allererstes wieder verloren ging. Der Appetit kommt beim Essen, der Spurt vielleicht beim Angehen!? Schaun ma ma….

Bei Kilometer 10 (und einem Umweg von tausend Schritten) sind wir endlich in Larressingle: Dörfchen mit der intaktesten mittelalterlichen Verteidigungsmauer westlich von Caraccasonne. Ein Hauch Mittelalterburg für Arme.
Drinnen: einige Touristen, die über halsbrecherische Treppen kraxeln müssen, um vor geschlossenen Geschäftchen zu stehen. Ein Herr malt in meditativer Ruhe die Lettern des Touristenbüros nach, man eilt nicht mit dem Saisonstart hier.
Fotoausstellung an Burgmauer, ein einziges Lädchen öffnet dann doch noch nach unserem Mittagessen (mal wieder Baguette mit Käse), verkauft aber leider keine „Jesus loves you -Chaquette“.
Sehr aufmerksamer Hütehund mit Jagdtrieb im Gras, wir treffen die Australier wieder, die heute sehr frieren.

Weiter geht’s durch Weinberge und über Äcker. Mittlerweile mit der Akzeptanz, dass unsere Fersen auf ewig und für den Rest unseres Lebens schmerzen werden. Wer das annimmt, kann einfacher weitergehen.
Pause im Gras, ein Meilenstein am Wegesrand: „bis nach Santiago noch 1000km“. Olle Pilgerbrücke aus dem 12. Jahrhundert und ein richtungsweisendes Strassenschild für Zweifler:
Rechts -> „L’Inquietude“ (=Unruhe, Besorgnis, Sorge).
Links -> Compostelle
Ein Traum für jedes magisch denkende Menschlein….
und dann sind wir für heute auch schon da.

Montréal. „En Gers“, nicht in Kanada.
Mittenmang hat’s ein B&B für uns (Zugang nur über einen abenteuerlichen Zahlencode, dafür mit eigenem Stempel in der Küche), das wir heute nur mit Raymond aus der Schweiz teilen.
Im Supermarkt holen wir uns das einzige, semi-vegetarische Essen, das sich in der Mikro erwärmen lässt, da in der Pension heute keine Herdplatte zur Verfügung steht. Der Lachs muss für uns heute leider „fleischfrei“ sein. Ansonsten gäbe es nur Brot und Käse und das reicht den Muskeln nicht nach über 20 Kilometern.

Eine Wanne, ein Plausch, dann Füßchen hoch.
Nach einer weiteren entspannten Nacht kommt sie ja vielleicht doch irgendwann noch mal wieder: diese Wanderlust, die verloren ging zwischen Wegekreuz und Acker…irgendwo im Gers. Zwischen Condom und Montreal.


Auf der Suche nach der Kraft

Pausentag in Condom in Hoffnung auf das wieder Auffinden der eigenen Kräfte.
Nach der ersten Nacht sind sie nicht noch zurück gekehrt. Also müssen wir sie wohl suchen gehen.

Wir bummeln zum Frühstück und gönnen uns diverse Kaffee: nix.
Am Vormittag eiern wir in die Stadt, in der Hoffnung Unterstützung in der Kathedrale zu finden. Immerhin gibt es sehr wundervolle Kunst dort und ein tiefes, spirituelle Ambiente. Frischer aber sind wir danach noch immer nicht.

Am Mittag holen wir uns im einzigen veganen Restaurant im Umkreis von 500 Kilometern das Mittagsmenü. Schmeckt phantastisch, aber an der Energie macht es gar nix.
Am Nachmittag essen wir Kekse aus der Bäckerei ums Eck, am Abend Pizza aus dem Automaten noch ein Eck weiter.

Und was tut sich an der Kraft?
Nichts.
Jemand hat den Stöpsel gezogen. Und wir haben ihn heute nicht wieder reinbekommen. Sagen lässt sich aber: an der Menge des Essens kann es nicht gelegen haben…

Jakobsweghänger nach 22 Wandertagen und 420 Kilometern.
Vielleicht ist das ja auch gar nicht so unnormal?
Dass man sich nach über 400 Kilometern hoch und runter und zu Fuß durchs Zentralmassiv mal fragt , warum —zum Teufel— man eigentlich keinen Bus nimmt…


Nach Condom mit dem Gummihammer

25 Kilometer bis Condom, sagt Chouchous Planung am Morgen. Am Abend sagt mein Schrittzähler: es waren 30 Kilometer, in denen irgendwann der Mann mit dem Hammer zuschlug.

Am Morgen geht es einigermaßen entspannt und spät los. Noch immer meinen wir, wir hätten es nicht eilig. Zusätzlich hat die Hitze —Gott sei dank— nachgelassen. 15 Grad und Wind. Wunderbar.

Die ersten fünfzehn Kilometer laufen recht fein. Wir treffen tatsächlich die Eselfamilie wieder: natürlich hat der Sture sich nicht übers Wasser zwingen lassen. Sie mussten also kilometerweit zurück in Richtung Straße, um einen trockenen Umweg zu finden.

Schöne Rosensträucher am Dorfrand, im Nichts ein märchenhafter Abzweig in ein erdachtes Örtchen namens Tougnet, toskanische Weindomainen und eine wunderschöne Kapelle, in der unbedingt eine Kerze für den Frieden angezündet werden muss und ich endlich die Losung aus Auvillar öffne: „Hab Geduld. Alle Dinge sind schwierig, bevor sie einfach werden.“

Der Boden sieht heute meist so aus, wie ich mich fühle: brüchig, ausgelaugt, nährstoffarm. Wir rasten auf dem Acker. Sitzen mit Ausblick, als plötzlich der Unsichtbare mit Hammer kommt und uns einmal hart auf den Kopp haut.
Es ist, als würde jemand plötzlich einen Stöpsel ziehen. Wie bei einem Luftballon, dem die Luft ausgeht. Plötzlicher Kraftverlust nach recht exakten 400 Kilometern zu Fuß. Beim Aufstehen schiesst unbekannter Schmerz ins Knie. So auch noch nie da gewesen. Wir betreten anscheinend eine neue Phase.

Condom heißt uns mit einem Meilenstein willkommen. Laurent und Argent haben noch ein Plätzchen in ihrer bunten, russischen Herberge für uns. Wir buchen zwei Nächte: in der Hoffnung, dass wir die verlorene Kraft über Nacht wieder einsammeln.

Pizza im einzigen, geöffneten Etablissement am Platz. Seltsam, dass es noch hell ist, als wir aus dem Restaurant heraus kommen.
Noch? Oder schon wieder?
Tja, wer weiß das schon!?
Hier in Condom.
Am ehesten der Unsichtbare mit Gummihammer — nehme ich an.


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